Hildegund Holzheid, Präsidentin des Oberlandesgerichts München: Stellungnahme zur Zivilprozeßreform
Meine Stellungnahme bezieht sich nur auf den Entwurf Drucksache 14/3750. Daraus ergibt sich auch meine Haltung zum Entwurf Drucksache 14/163.
I. Zur Notwendigkeit einer Reform
Der deutsche Zivilprozeß ist nicht reformbedürftig, auch wenn man die eine oder andere Verbesserung, die in dem Entwurf enthalten ist, begrüßen kann.
Es sollte dem Gesetzgeber zu denken geben, wenn Richter und Rechtsanwälte in einer selten erfahrenen Einmütigkeit die Reform ablehnen, und zwar nicht etwa gegenläufig sondern mit der gleichen Zielrichtung: Die Reformentwürfe mögen im Wesentlichen zurückgezogen werden.
Es sollte dem Gesetzgeber zu denken geben, daß alle deutschen Oberlandesgerichtspräsidenten in einer einstimmig gefaßten Entschließung, die beigefügt ist, die Reform als Ganzes abgelehnt haben. Man muß dabei davon ausgehen, daß parteipolitische Präferenzen der einzelnen Personen überhaupt keine Rolle gespielt haben.
Natürlich könnte die Justiz zur Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit mehr Personal gebrauchen, allerdings vor allem im Unterstützungsbereich; sie wird es aber im Hinblick auf die Kassenlage der Länder nicht erhalten. Wenn aber den Gerichten mehr Personal zur Verfügung gestellt werden könnte, dann würden die Richterstellen durch die gerichtlichen Präsidien mit Sicherheit nicht vorwiegend oder ausschließlich im Zivilprozeß eingesetzt werden.
Der Entwurf sieht im übrigen keineswegs Stellenmehrungen vor; der Bund wäre ja auch dafür nicht zuständig. Die für die „Stärkung der ersten Instanz“ gewünschten Richter sollen vielmehr von den Berufungsgerichten und aus dem vermehrten Einsatz von Einzelrichtern gewonnen werden. Beide Wege erweisen sich als Irrwege . Dazu kommen Belastungen, die auf die Richter aller Instanzen durch die Reform zukommen werden.
II. Allgemeines
Die behaupteten Reformanliegen der Bürgernähe, der Effizienz und der Transparenz stellen positiv besetzte Formulierungen dar. Die Reform verwirklicht sie allerdings nicht; was Bürgernähe und Effizienz angeht, verschlechtert sich das Bild vielmehr.
Im Hintergrund dieser Reform steht die Idee des dreistufigen Gerichtsaufbaus für die ordentliche Gerichtsbarkeit, häufig ventiliert und bisher ebenso häufig wieder verworfen.
Der Gedanke der deutlichen Funktionsdifferenzierung von drei Rechtsmittelebenen erscheint auf den ersten Blick bestechend, logisch, durchdacht und transparent. Wenn man die Justiz in Deutschland ganz neu einrichten würde, könnte man dieses System auch wählen. Wir haben aber eine gut funktionierende gewachsene Struktur mit einem vierstufigen Gerichtsaufbau, die dennoch in keinem Verfahren mehr als drei Instanzen vorsieht, und die sich in einer Mischung aus mehr summarischem und vertiefendem Verfahren gut bewährt hat.
Sowohl im Zivilprozeß wie im Strafprozeß führt dieses System dazu, daß gerade wegen der Ausgestaltung der Berufungsinstanz als weitere Tatsacheninstanz und nicht als reine Fehlerkontrollinstanz, also wegen der Gewissheit, noch eine „zweite Möglichkeit“ zu haben, die meisten Fälle in erster Instanz rechtskräftig erledigt werden. Im Strafverfahren sind es ca. 95 %, im Zivilverfahren 94 % der amtsgerichtlichen Verfahren und 85 % der landgerichtlichen erstinstanziellen Verfahren. Es handelt sich also – wie das Gutachten der Max-Planck-Gesellschaft zum Strafverfahren darlegt – um ein äußerst ökonomisches rationelles Verfahren.
Die Reform beschädigt ein gut funktionierendes System.
Der dreistufige Gerichtsaufbau erscheint – gemessen an dem vorhandenen System – bürgerfeindlich und kostenträchtig. Ich komme darauf zurück beim Thema Konzentration aller Berufungen beim Oberlandesgericht.
III. Einzelpunkte:
Meine Kritik richtet sich im wesentlichen gegen die folgenden belastenden Regelungen:
1. Hinweis- und Dokumentationspflicht, § 139 ZPO-E
Der Fraktionenentwurf enthält zwar eine Verbesserung gegenüber dem Referentenentwurf des BMJ, indem er vor allem in Absatz 2 Satz 2 die Hinweispflicht nicht mehr davon abhängig macht, daß das Gericht einen Gesichtspunkt anders beurteilt als eine Partei (was im Zivilprozeß die Regel ist), sondern als beide Parteien.
Belastend wirkt sich aber die in Absatz 4 enthaltene Dokumentationspflicht aus. Sie stellt eine weitere Formalisierung der Prozeßführung dar und wird gänzlich unvollziehbar, wenn jeder Hinweis inhaltlich protokolliert werden soll. Im Endeffekt läuft diese Verpflichtung darauf hinaus, daß das Gericht seine jeweilige Beurteilung des Verfahrens zu Protokoll geben soll, was neuen Vortrag provoziert und damit das Verfahren belastet, vor allem auch den Unterstützungsbereich (Protokollführer/Schreibkräfte)
2. Obligatorische Güteverhandlung, § 278 ZPO-E
Die bisherige Rechtslage, nach der das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinwirken soll (§ 279 ZPO) und dies auch schon im eigenen Interesse tut, ist völlig ausreichend. Jeder Formalismus in diesem Bereich ist verfehlt. Das vorgeschaltete Güteverfahren belastet die mündliche Verhandlung sinnlos. Zusätzliche Termine für einen Gütetermin verzögern das Verfahren ; das gilt vor allem dann, wenn auch bei erkennbarer Aussichtslosigkeit des Güteverfahrens eine Partei den Gütetermin durch entsprechenden Antrag erzwingen kann.
Der Schlichtungsgedanke ist im Übrigen durch die Öffnungsklausel für das obligatorische außergerichtliche Schlichtungsverfahren bereits hinreichend verstärkt worden.
Schließlich und endlich entspricht es auch nicht meinem Verständnis von korrekter richterlicher Verfahrensbehandlung, wenn vor jeder Vorklärung von Zweifelsfragen in der mündlichen Verhandlung der Anschein erweckt wird, als gehe es dem Richter um einen Vergleich um jeden Preis.
Im Hinblick auf die Beschränktheit des dortigen Stoffplans taugt der immer wieder gebrachte Vergleich mit dem arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht.
3. Abhilfe bei Verletzung des rechtlichen Gehörs, § 321 a ZPO-E
Die Einführung dieses Abhilfeverfahrens wird die Amtsgerichte belasten und das Ziel einer Entlastung des Bundesverfassungsgerichts nicht erreichen.
Es ist zu befürchten, daß in vielen Fällen, in denen eine Berufung nicht zulässig ist, Rügen nach § 321 a ZPO-E wegen angeblicher Gehörsverletzung erhoben werden ohne berechtigten Hintergrund, von Rechtsanwälten evtl. auch aus Haftungsgründen. Die Amtsgerichte müssen jeweils durch zu begründenden Beschluß entscheiden.
Eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts wird nur in den wenigen Fällen einer begründeten Rüge der Gehörsverletzung eintreten. Diese Fälle machen aber einem Verfassungsgericht wenig Arbeit; sie fallen auch zahlenmäßig nicht ins Gewicht, wie sich aus der sehr geringen Erfolgsquote von Verfassungsbeschwerden bei allen Verfassungsgerichten ergibt.
Die Beschwerdeführer, die eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erzielen wollen, können darüber hinaus dies unschwer durch die Erhebung weiterer Rügen (Handlungsfreiheit, Willkür) erreichen.
4. Verstärkter Einzelrichtereinsatz, §§ 348,348 a ZPO-E
Mit Nachdruck spreche ich mich gegen die vorgesehenen Regelungen zum Einzelrichtereinsatz bei der Zivilkammer aus.
Das Kollegialsystem gewährleistet in der Regel eine höhere Entscheidungsqualität. Es stärkt den Gedanken der Teamarbeit, dessen Vorzüge allenthalben gepriesen werden. Es gewährleistet eine Ausbildung der jungen Richter und eine Einbindung schwächerer und kranker Kollegen. Es erhöht die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen und dient damit der Friedensstiftung.
Die Vorstellung, durch vermehrten Einzelrichtereinsatz könnten Stellen eingespart werden, beruht auf der unzutreffenden Meinung, daß in einer Kammer etwa die dreifache Arbeitszeit für ein Verfahren benötigt wird wie beim Einzelrichter. Praktische Erfahrungen zeigen, daß gut organisierte Kammern besonders in komplexeren und schwierigeren Fällen rationeller arbeiten als unabhängig voneinander agierende Einzelrichter.
Bundesweite Statistiken beweisen im übrigen, daß einer höheren Einzelrichterquote keineswegs eine höhere Erledigungsquote pro Richter entspricht.
Irreführend sind Ergebnisse von Erhebungen, die die Qualität und die Akzeptanz der Einzelrichterentscheidungen höher ansetzen als die von Kammerentscheidungen. Das mag damit zusammenhängen, daß bei der Kammer die schwierigen und wirtschaftlich bedeutenderen Fälle verbleiben, in denen verständlicherweise von den Parteien härter gekämpft und häufiger eine höchstrichterliche Entscheidung angestrebt wird.
Die Erfahrung zeigt, daß es wünschenswert wäre, den Kollegialgerichten weitestgehend selbst zu überlassen, wie sie verfahren wollen. Die einen arbeiten lieber und besser im Team, die anderen besser als Einzelkämpfer; dies hängt stark von den individuellen Persönlichkeiten ab. Es würde eine Stärkung der richterlichen Position bedeuten, wenn man es in die Hände der individuell zuständigen Kammern geben würde, über die Verfahrensweise zu entscheiden.
Soweit der Entwurf in § 348 Abs. 1 Nr. 2 ZPO-E die Zuständigkeit der Kammer an den Geschäftsverteilungsplan binden will, also in richterliche Hände gibt, wird dies meinem Anliegen nicht gerecht, weil dies nur für wenige Spezialmaterien gilt und weil damit den individuellen Eignungen nicht Rechnung getragen werden kann.
5. Absenkung der Berufungssumme und Zulassungsberufung – § 511 Abs. 2 und Abs. 4 ZPO-E
Eine Rechtfertigung für die Senkung der Berufungssumme auf 1.200,- DM/600 Euro gibt es nicht. Für den Bürger ist es durchaus einsichtig, daß in Bagatellsachen keine zweite Instanz möglich ist und nach einer richterlichen Überprüfung Rechtssicherheit und Rechtsfrieden eintreten.
Natürlich wirkt diese Regelung belastend, weil sie einen erhöhten Personaleinsatz in der Berufungsinstanz notwendig machen wird. Vernünftiger wäre es, die Berufungssumme auf 2.000,-DM zu erhöhen, zumal durch die Einführung einer Zulassungsberufung Fälle von grundsätzlicher Bedeutung nunmehr einer Überprüfung zugeführt werden können.
Es ist zu begrüßen, daß der Fraktionenentwurf die Zulassung der Berufung nur im erstinstanzlichen Urteil vorsieht und davon absieht, den im Referentenentwurf vorgesehenen nachträglichen Zulassungsantrag aufrecht zu erhalten. In dieser Form befürworte ich die Zulassungsberufung, auch wenn sie eine gewisse Mehrbelastung der Berufungsinstanz bewirkt.
6. Zurückweisungsverfahren, § 522 Abs. 2 ZPO-E
Die vorgesehene Regelung, eine Berufung nach einschlägigem Hinweis durch Beschluß zurückzuweisen, wenn das Gericht einstimmig dafür hält, daß sie keine Aussicht auf Erfolg hat, ist kompliziert und führt zu einer Mehrfachbefassung des Senats mit einem Fall. Sie widerspricht auch dem Verlangen, Akzeptanz zu schaffen.
7. Prüfungsumfang des Berufungsgerichts, § 529 ZPO-E
Die Umgestaltung der Berufung in eine Fehlerkontrollinstanz mit eingeschränkter Überprüfungsmöglichkeit halte ich aus den schon im allgemeinen Teil genannten Gründen nicht für akzeptabel, auch nicht in der gegenüber dem Referentenentwurf abgemilderten Form des Fraktionenentwurfs. Die Berufungsinstanz soll die Einzelfallgerechtigkeit wahren und institutionell absichern, daß es Verfahren in unserem komplizierten Rechtssystem gibt, die der Möglichkeit einer umfassenden Korrektur bedürfen.
Der behauptete Spareffekt ist unwesentlich. Eine neue Tatsachenfeststellung in der Berufungsinstanz ist auch heute nicht die Regel. Wiederholungen von Beweisaufnahmen erfolgen in der Praxis regelmäßig nur bei zweifelhafter Beweislage.
In einer Tatsacheninstanz darf nicht mehr Mühe darauf verwandt werden, darzulegen, ob „auf Grund konkreter Anhaltspunkte ernstliche Zweifel“ an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen bestehen, als auf die Sache selbst.
Die revisible Ausgestaltung der Einschätzung des Berufungsgerichts, ob ernstliche Zweifel vorliegen, schränkt die flexible Verfahrensweise des Berufungsgerichts ein, birgt damit die Gefahr, daß der Vortrag der ersten Instanz aufgebläht wird und führt zum Gegenteil von Akzeptanz und Transparenz. Ferner birgt die Regelung die Gefahr der Verlagerung des Streitstoffs in den Haftungsprozeß gegen den Anwalt.
8. Einzelrichtereinsatz im Berufungsverfahren, § 526 ZPO-E
Eine Ausweitung des Einzelrichtereinsatzes im Berufungsverfahren ist außerordentlich problematisch, vor allem dann, wenn der Einzelrichter in der ersten Instanz so sehr die Regel werden soll, wie der Entwurf das vorsieht.
Für den rechtsuchenden Bürger wird nicht verständlich sein, warum nach vorangegangener Entscheidung eines Einzelrichters erneut eine Einzelrichterentscheidung folgt. Die Teamarbeit in der Berufungsinstanz muß nicht nur wegen der größeren Akzeptanz beim Bürger, sondern auch wegen der größeren Richtigkeitsgewähr erhalten bleiben.
Die Spezialisierung der Senate erfordert bei jedem einzelnen hohe Fachkompetenz, die nicht am ersten Tag vorhanden ist.
Gegen eine allgemeine Kann-Vorschrift hätte ich keine Bedenken.
9. Zulassungsrevision mit Nichtzulassungsbeschwerde, §§ 543, 544 ZPO-E
Es gibt gute Gründe dafür, von der reinen Streitwertrevision zu einer Zulassungsrevision überzugehen. Wenn dies aber in allen Fällen mit einer Nichtzulassungsbeschwerde verbunden wird, ergibt sich eine ganz erhebliche Mehrbelastung der Berufungsgerichte, die nunmehr in allen Rechtsstreitigkeiten – nach dem Willen der Reform ab 1.201,- DM Beschwer – ein vollständiges, revisionssicheres Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen fertigen müssen.
Die z.B. beim Oberlandesgericht München höchst erfolgreich und vielfach praktizierte Form der kurzen Begründung nichtrevisibler Sachen zu Protokoll wird nicht mehr möglich sein.
10. Einheitliche Berufungsinstanz Oberlandesgericht, § 119 Abs. 1 GVG – E
Die vorgesehene Konzentration aller Berufungs- und Beschwerdesachen bei den Oberlandesgerichten ist nicht hinnehmbar. Sie ist bürgerfeindlich, weil sich die Wege zum Berufungsgericht für Parteien und Rechtsanwälte verlängern und verteuern. Richter und Unterstützungspersonal müßten von den Landgerichten zu den Oberlandesgerichten versetzt werden mit hohem Raummehrbedarf. Der vom Bundesjustizministerium aufgezeigte Ausweg, dann eben auswärtige Senate einzurichten, erscheint wie ein Schildbürgerstreich. Die räumliche Aufsplitterung eines Gerichts führt dazu, daß die wünschenswerten Spezialisierungen nach Rechtsgebieten nicht mehr vorgenommen werden können. Die Vorstellung, ein großes Oberlandesgericht wie München müßte dann auswärtige Senate an acht Landgerichtsstandorten einrichten, kann nicht ernsthaft in Betracht kommen; aber auch eine Reduzierung auf vier solcher Standorte ist ineffizient.
Die Berufungszivilkammern der Landgerichte haben ihre spezifische Kompetenz für die typischen amtsgerichtlichen Streitigkeiten (Miete, Kfz.-Unfälle, Handwerksleistungen)
Diese Konzentrationsabsicht dient ausschließlich dem Einstieg in einen dreigliedrigen Gerichtsaufbau, der angesichts eines gut funktionierenden viergliedrigen Systems keine Vorteile bringt.