Prof. Dr. Reinhard Greger: Stellungnahme zum Entwurf eines Zivilprozessreformgesetzes

Grundthesen

Eine grundlegende Reform der Zivilgerichtsbarkeit ist dringend erforderlich.

Weit mehr als Aussenstehende wahrnehmen können und Insider wahrhaben wollen stehen die aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Verfahrensregeln der ZPO einer effizienten Rechtsdurchsetzung vor den Zivilgerichten entgegen.

An die Stelle von „laissez faire“ muß das Leitmotiv der englischen Zivilprozessreform von 1998 treten: „dealing with cases justly“.

Die Zivilgerichte müssen daher befähigt werden, private Rechtskonflikte mit rationalem Aufwand, zügig und fair zu bereinigen.

Die Subsidiarität hoheitlicher Streitentscheidung muß stärker beachtet werden.

Einzelvorschläge

Die Justiz muß in die Lage versetzt werden, ihre Kräfte rationell und effizient im Sinne größtmöglicher Gerechtigkeitsgewähr einzusetzen. Dazu bedarf es der

1. Konzentration der Rechtsprechung auf die unbedingt hoheitlich zu entscheidenden Fälle

Anzustreben ist Prozessvermeidung durch die Etablierung von Alternativen zur Ziviljustiz in Rechtssystem und -bewußtsein.

Hier gibt es bereits positive Ansätze:

  • Schlichtungsgesetze nach § 15a EGZPO in einigen Ländern
  • Entstehen neuer Schlichtungsstellen in vielen Bereichen
  • zunehmende Akzeptanz der Mediation, auch in der Anwaltschaft

Sie müßten verstärkt werden durch eine Regelung, wonach das Gericht geeignete Verfahren an aussergerichtliche Schlichtungsstellen verweisen kann.

Der Entwurf des ZPO-RG sieht in § 278 IV 2 nur die (ohnehin bestehende) Möglichkeit eines entsprechenden Vorschlags des Gerichts vor; dieser Ansatz sollte ausgebaut werden (Formulierungsvorschlag in Anlage 1).

Eine obligatorische Güteverhandlung vor dem Gericht (§ 278 I ZPO-RG-E) sollte nicht eingeführt werden.

Sie würde nur Leerlauf und eine Vermehrung der Termine bringen (denn unmittelbarer Anschluss des Termins zur mündlichen Verhandlung wird oft nicht möglich sein, weil er weiterer Vorbereitung bedarf).

2. Konzentration des Richters auf seine Rechtsprechungsfunktion

Hierfür kommt in Betracht:

  • die Übertragung von reinen Berechnungen oder Beurkundungsfunktionen auf andere Stellenz.B. Entscheidung über Kostenquoten, Vollstreckungssicherheiten, Versorgungsausgleich nur dem Grunde nach
  • die Vermeidung von Verfahren, in denen das Gericht nur zu formaler Rechtswahrung oder als Titulierungsinstitut eingesetzt wird.Vorschläge: Überarbeitung materiellrechtlicher Vorschriften, die zu Klageerhebung zwingen; Änderung der §§ 271 ff. ZPO mit dem Ziel, eine Aussonderung unstreitiger Erledigungen vor Befassung des Richters zu ermöglichen (s. Anlage 2).

3. Konzentration des Prozesses auf eine einmalige, umfassende Streiterörterung

Dies setzt eine Stärkung der materiellen Prozessleitung durch das Gericht voraus.

Hier ist der Entwurf zu zurückhaltend: § 139 ZPO-RG-E geht kaum über das bisher Geltende hinaus. Die (von vielen Richtern bereits praktizierte) aktive Prozessleitung muß durch Verfahrensvorschriften generell sichergestellt werden. Vorschläge:

  • Anstelle der weithin leer laufenden Vorschriften über schriftliches Vorverfahren und frühen ersten Termin und anstelle der im Entwurf vorgesehenen Güteverhandlung obligatorische Vorbereitungskonferenz zwischen Gericht, Prozessbevollmächtigten und Parteien, in der insbesondere
    • der Prozessstoff mit den Parteien zu erörtern ist,
    • die streitigen Tat- und Rechtsfragen herauszuarbeiten sind,
    • Möglichkeiten zur Herbeiführung einer gütlichen Einigung abzuklären sind,
    • ggf. ergänzende Aufklärung aufzugeben ist,
    • Umfang und Ablauf einer etwaigen Beweisaufnahme abzustecken sind
    • ein Ablaufplan für den Prozess zu erstellen ist.
  • Das persönliche Erscheinen der Parteien ist für den Regelfall anzuordnen; nur bei triftigen Gründen soll das Gericht davon absehen können.
  • Die Darlegungslast der Parteien (bisher nur unklar durch die Rechtsprechung geregelt) ist entsprechend der BGH-Rechtsprechung zur sekundären Behauptungslast gesetzlich zu normieren,
  • ebenso die Pflicht zur Vorlegung von Urkunden und Augenscheinsobjekten (so §§ 142, 144 ZPO-RG-E).
  • Mangelnde Mitwirkung am Verfahren sollte strenger sanktioniert werden:
    • Einspruch gegen Versäumnisurteil nur bei fehlendem Verschulden,
    • Versäumnisurteil auch bei unentschuldigtem Fernbleiben der persönlich geladenen Partei.
  • Erleichterung der Kommunikation zwischen den Beteiligten durch Zulassung von Telefonkonferenzen anstelle mündlicher Verhandlungen, e-Mails anstelle Schriftverkehrs.
  • Obligatorische Abschlußverhandlung nach Beweisaufnahme. Der bisherige § 285 I ZPO wird zu formal gehandhabt. In die richtige Richtung geht § 279 III ZPO-RG-E, der eine Erörterung des Gerichts mit den Parteien verlangt.

Die Konzentration auf eine Instanz könnte weiter gefördert werden durch das Ermöglichen eines Abhilfeverfahrens bei Verfahrensfehlern, wie es ansatzweise in § 321a ZPO-RG-E für Gehörsverletzungen bei nicht berufungsfähigen Urteilen vorgesehen ist.

Berufungsschriften sollten – wie Beschwerdeschriften – zunächst dem iudex a quo zugeleitet werden, damit dieser einer Beanstandung des Verfahrens abhelfen oder zu ihr Stellung nehmen kann.

Wichtig ist schließlich die Qualitätssicherung durch Beibehaltung der grundsätzlichen Entscheidungskompetenz eines Kollegialspruchkörpers.

Statt bestimmte Prozesse zwingend dem Einzelrichter zuzuweisen (so § 348 ZPO-RG-E) sollte eine flexible Regelung nach Art des § 524 II, III ZPO getroffen werden.

4. Konzentration der Rechtsmittelgerichte auf eine präventive und kontrollierende Funktion

Wenn die erste Instanz in vorstehender Weise gestärkt wird, kann die Berufungsinstanz von einer Neuverhandlungs- zur Kontrollinstanz umgestaltet werden:

  • Neuer Tatsachenvortrag und Erweiterungen des Streitgegenstands sind nur in engen Grenzen zuzulassen, die in §§ 531 II, 533 ZPO-RG-E zutreffend abgesteckt werden.
  • Der Berufungskläger soll die 2. Instanz nur eröffnen dürfen, wenn er gegen das Ersturteil konkrete Rügen erhebt und diese so schlüssig darlegt, daß das Berufungsgericht nicht wegen fehlender Erfolgsaussicht oder Grundsatzbedeutung auf Zurückweisung durch Beschluss (§ 522 II ZPO-RG-E) erkennen kann.
  • Dabei sollten nicht nur Rechtsverletzungen gerügt werden können. Der Berufungsführer muß auch rügen können, dass das Urteil aus tatsächlichen Gründen unrichtig ist, wobei allerdings die Grenzen für neues Vorbringen zu beachten sind.

§ 520 III ZPO-RG-E trägt dem in Nrn. 3 und 4 im Wesentlichen Rechnung, doch sollte der unklare Begriff „ernstliche Zweifel“ vermieden werden. Richtig ist es, die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte zu verlangen, aus denen sich die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Tatsachenfeststellung ergibt.

  • Ist die Berufungsinstanz auf diese Weise eröffnet, muss das Berufungsgericht im Interesse der Verfahrensökonomie grundsätzlich (zutreffende Ausnahmen in § 538 II ZPO-RG-E) eine eigene Sachentscheidung über den Fall insgesamt treffen.
  • Die sich dabei stellende Frage des Prüfungsumfangs erscheint im Entwurf noch nicht zufriedenstellend gelöst:

    Dass Verfahrensfehler nur geprüft werden dürfen, wenn sie gerügt oder von Amts wegen zu berücksichtigen sind, entspricht der Wertung des § 295 ZPO und verdient Zustimmung (§ 529 II 1 ZPO-RG-E).

    Ebenfalls zu Recht wird eine Bindung an die materiellrechtliche Würdigung des Erstgerichts oder der Parteien abgelehnt (§ 529 II 2 ZPO-RG-E).

    Ob die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz fortwirken oder ob das Berufungsgericht auch insoweit frei ist, regelt der Entwurf jedoch in § 529 I nicht zufriedenstellend. Nach dieser Regelung hat das Berufungsgericht sein Urteil zu stützen auf:

    – von ihm festgestellte Tatsachen, die in zulässiger Weise (§ 531 II ZPO) neu eingeführt wurden
    – von ihm wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen neu getroffene Feststellungen
    – im übrigen die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen.

    Dies bedeutet, dass das Berufungsgericht vom Sachverhalt des Ersturteils abweichen kann

    – aufgrund zulässigen Neuvorbringens (das ist selbstverständlich)
    – aufgrund abweichender Beweiswürdigung.

    Auch wenn der Entwurf verlangt, dass diese Abweichung auf konkrete Anhaltspunkte gestützt sein muss, wird dadurch doch eine erhebliche Rechtsunsicherheit in das Berufungsverfahren getragen. Letztlich kann das Berufungsgericht, wenn der Weg zu ihm erst einmal eröffnet ist, den Rechtsstreit auch vom Tatsächlichen her völlig neu aufrollen. Dies ist mit der Neubestimmung seiner Funktion als Kontrollinstanz nicht vereinbar. Die Bindung an Feststellungen der Vorinstanz darf vielmehr nur entfallen, wenn die betreffende Feststellung erfolgreich angegriffen wurde oder mit anderen Feststellungen, die erstmals in der Berufungsinstanz getroffen wurden, nicht vereinbar ist. Ist die Bindung erst einmal entfallen, kann das Berufungsgericht seine ersetzende Feststellung völlig frei aufgrund eigener Beweiswürdigung, alter wie neuer Beweismittel treffen.

    Verbesserungsvorschläge zu den Vorschriften über die Berufung enthält Anlage 3.

Der Neuregelung des Zugangs zur Revisionsinstanz ist zuzustimmen,

ebenso den Änderungen des Beschwerdeverfahrens.

Von einer Alleinzuständigkeit des OLG für alle Berufungen und Beschwerden (gegen AG- und LG-Urteile) ist abzuraten.

Sie erfordert erhebliche Umorganisationen personeller und räumlicher Art, die eine baldige Umsetzung der Reform verhindern würden. Zudem sprechen die besseren Gründe dafür, für kleinere Rechtsstreitigkeiten ein weniger aufwendiges, ortsnahes Verfahren vorzusehen. Die für wichtigere Aufgaben benötigten Kapazitäten der OLG sollten nicht für massenhaft anfallende Kleinverfahren verbraucht werden. Aus Gründen der Rechtsvereinheitlichung könnte allenfalls daran gedacht werden, den Rechtsentscheid nach § 541 ZPO beizubehalten und auf alle landgerichtlichen Berufungsverfahren zu erstrecken.

Anlage 1

Gesetzesvorschlag zur Überleitung von Zivilprozessen in Schlichtungsverfahren

§ 279a. [Verweisung an Gütestelle] (1) Das Gericht kann den Rechtsstreit an eine durch die Landesjustizverwaltung eingerichtete oder anerkannte Gütestelle verweisen, wenn aus persönlichen oder sachlichen Gründen eine gütliche Beilegung angezeigt und möglich erscheint. Der Beschluss kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Er ist nicht anfechtbar.

(2) Die Parteien können vereinbaren, dass das Verfahren vor der Gütestelle als schiedsrichterliches Verfahren im Sinne des § 1025 fortgesetzt wird.

(3) Kann das Verfahren vor der Gütestelle nicht abgeschlossen werden, so verweist diese den Rechtsstreit unter Mitteilung der Gründe für das Scheitern an das Gericht zurück.

§ 279b. [Aussetzung zur gütlichen Beilegung] (1) Das Gericht setzt die Verhandlung aus,

  1. wenn die Prozessbevollmächtigten sich bereit erklären, mit dem Ziele eines Vergleichs nach § 796a zu verhandeln,
  2. wenn die Parteien sich bereit erklären, eine für den Ausgang des Rechtsstreits erhebliche Tatsachenfeststellung oder -bewertung durch einen vom Gericht benannten Schiedsgutachter treffen zu lassen.

An das Schiedsgutachten nach Satz 1 Nr. 2 sind Gericht und Parteien gebunden; dies gilt nicht im Falle offenbarer Unrichtigkeit.

(2) Auf Antrag einer Partei ist die Aussetzung aufzuheben, im Falle von Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 jedoch nicht vor der Erstattung oder Verweigerung des Schiedsgutachtens.

Anlage 2

Konzept für eine Neugestaltung des prozessvorbereitenden Verfahrens

Die Klage wird nach Prüfung der Formalien und der Vorschusszahlung von der Geschäftsstelle (also ohne die bisher nach §§ 274 II, 276 I ZPO erforderliche Einschaltung des Vorsitzenden) an den Beklagten zugestellt mit der formblattmäßigen Aufforderung, binnen einer Notfrist von zwei Wochen ab Zustellung dem Gericht eine schriftliche Mitteilung zukommen zu lassen, falls er sich gegen die Klage verteidigen will.

Nach den zwei Wochen legt die Geschäftsstelle die Klage und die eventuelle Verteidigungsanzeige dem Richter vor.

Fehlt die Anzeige, erlässt dieser nach positiver Prüfung der Schlüssigkeit von Amts wegen ein dem Antrag des Klägers stattgebendes schriftliches Urteil.

Andernfalls lädt er Parteien und Prozessbevollmächtigte zur Vorbereitungskonferenz, in der insbesondere

  • der Prozessstoff mit den Parteien zu erörtern ist,
  • die streitigen Tat- und Rechtsfragen herauszuarbeiten sind,
  • Möglichkeiten zur Herbeiführung einer gütlichen Einigung abzuklären sind,
  • ggf. ergänzende Aufklärung aufzugeben ist,
  • Umfang und Ablauf einer etwaigen Beweisaufnahme abzustecken sind
  • ein Ablaufplan für den Prozess zu erstellen ist.

Vorteile dieses Verfahrens:

Es ermöglicht eine weitgehende Aussonderung unstreitiger Verfahren ohne richterliches Verfahrensmanagement.

Die in der Regel ohne ausreichende Grundlage zu treffende Entscheidung über schriftliches Vorverfahren oder frühen ersten Termin entfällt.

Die Nachteile des schriftlichen Vorverfahrens (Schwerfälligkeit, Aufblähung des Schreibwerks) und des frühen ersten Termins (sog. Durchlauftermin) werden vermieden.

Der Prozessstoff wird von vornherein konzentriert, der Rechtsstreit strukturiert.

Anlage 3

Neuregelung des Prüfungsumfangs in der Berufungsinstanz

ZPO-RG-EÄnderungsvorschlag
§ 513 [Berufungsgründe]

(1) Die Berufung kann nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546) beruht oder nach § 529 zu Grunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

(2) Die Berufung kann nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat.

 

 

dass die Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil unrichtig oder unvollständig sind.

§ 520 [Berufungsbegründung]

(3) … Die Berufungsbegründung muss enthalten:

3. die Bezeichnung konkreter Anhaltspunkte, aus denen sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen

Urteil ergeben;

 

 

 

 

 

 

der Umstände, die die Behauptung der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Tatsachenfeststellungen rechtfertigen;

 

§ 529 [Prüfungsumfang des Berufungsgerichts]

(1) Das Berufungsgericht hat seiner Verhandlung und Entscheidung zu Grunde zu legen:

1. die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen, soweit nicht aufgrund konkreter Anhaltspunkte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen bestehen, so dass eine erneute Feststellung geboten ist;

2. neue Tatsachen, soweit deren Berücksichtigung zulässig ist.

 

 

Hat das Erstgericht festgestellt, dass eine tatsächliche Behauptung wahr oder nicht wahr sei, so ist diese Feststellung für das Berufungsgericht bindend, es sei denn, dass in Bezug auf die Feststellung ein zulässiger und begründeter Angriff im Sinne von § 520 Abs. 3 Nr. 3 erhoben ist oder dass zuzulassendes neues Vorbringen eine Neufeststellung erforderlich macht.