Dr. h. c. Karlmann Geiß, Präsident des Bundesgerichtshofs a. D.: Reform des Zivilprozesses (Drucksache 14/3750 – Drucksache 24/163) Vorbereitende Stellungnahme zur Anhörung vor dem Rechtsausschuß am 06. Dezember 2000
I. Vorbemerkung
Die mit dem Entwurf des ZPO-RG angestrebte Reform des geltenden Rechtsmittelsystems ist nach meiner Auffassung im konzeptionellen Ansatz und in wesentlichen Eckpunkten sachgerecht.
Ausgangslage der beabsichtigten Reform ist ein Zustand der Zivilgerichtsbarkeit, der auf der Grundlage des geltenden Zivilprozesses in den erstinstanzlichen Ebenen der Amtsgerichte und der Landgerichte bei kurzen durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten eine erfreulich hohe streitbeendende Erledigungskapazität aufweist. Entgegen vielfacher Behauptung begegnet der Instanzenzug des geltenden Rechts in seiner tatsächlichen Inanspruchnahme auch nicht dem berechtigten Vorhalt genereller Hypertrophie. Demgegenüber aber richtig ist, dass das derzeitige Rechtsmittelrecht in seiner Bindung an Wertgrenzen bei der Eröffnung von Rechtsmittelmöglichkeiten im Vergleich der Streitwertbänder und Instanzenzüge deutliche Defizite an Systemgerechtigkeit aufweist, die neben dem Bedürfnis teils der besseren Funktionsbestimmung der Rechtsmittel, teils der rationelleren Aufgabenerledigung Reformbedarf begründen.
II. 1. Zum Rechtsmittel der Revision
Die im Entwurf vorgesehene Neureglung des Revisionszugangs zu den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs unterstütze ich, abgesehen von einem marginalen Punkt, nachdrücklich und ohne Einschränkung. Die Zulassungsrevision des Entwurfs ist nach meiner Auffassung das deutlich bessere Revisionsmodell gegenüber der geltenden Kombination von Zulassungsrevision im Streitweitband bis DM 60.000,– und freier Revision mit vorgeschaltetem Nichtannahmeverfahren in Streitwertsachen über DM 60.000,–. Die Einführung der Grundsatzrevision als Zulassungsrevision lässt im Interesse stärkerer Ausrichtung und Konzentration der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die Arbeit am Rechtsgrundsätzlichen eine Entlastung des Bundesgerichtshofs von Rechtssachen erwarten, die gegenwärtig erhebliche Richterkapazität binden, deren aufwendige Prüfung indessen ohne revisionsrechtlichen Ertrag bleibt. Eine erweiterte Grundsatzrevision bedeutet dergestalt eine wesentliche Stärkung des Bundesgerichtshofs in seinen Kernaufgaben der Gewährleistung von Rechtseinheit und Fortbildung des Rechts.
Das gegenwärtige Revisionsmodell der Kombination von Zulassungsrevision in der Entscheidung der Oberlandesgerichte und Streitwertrevision mit Nichtannahmeverfahren führt – entgegen der mit dieser Regelung verbundenen Erwartungen des Gesetzgebers – zunehmend zu nicht akzeptablen Unterschieden im Revisionszugang zum Bundesgerichtshof.
Im Bereich der Zulassungsrevision zeigt die Entwicklung einen kontinuierlichen Rückgaang der von den Oberlandesgerichten zugelassenen Revisionen von 492 Rechtssachen bei 2.249 Revisionen (entsprechend 22 % des Gesamteingangs) im Jahr 1980 dann auf lediglich noch 151 Rechtssachen bei mittlerweile 4.408 Revisionen (entsprechend ‚ ),4 % des Gesamteingangs) im Jahr 1999. Der Rechtszug im Bereich der Zulassungsrevision im breiten Streitwertband bis DM 60.000,– endet heute bei jahresdurchschnittlich 20.000 Berufungsurteilen in 99 % der Rechtssachen rechtskräftig bei den Oberlandesgerichten, mit der Folge, dass der Bundesgerichtshof in ca. 75 % der bei den Oberlandesgerichten durch Urteil entschiedelien Rechtssachen aus seiner Kernaufgabe, Recl-itseinheit und Rechtsfortbildung zu gewäl-irleisten, ausgeblendet ist; ganze Rechtsmaterien in Vielzahl sind so seiner Jurisdiktion inzwischen entzogen.
Gegenläufig entwickelt sich das Bild im Bereich der Streitwertrevision, in dem aus ca. 7.000 bis 8.000 Berufungsurteilen inzwischen über 4.200 Revisionseingänge erwachsen.
Abgesehen vom Verlust der Ausgewogenheit des Rechtsmittelsystems im Vergleich von Zulassungs- und Streitwertrevision scheinen die für die Aufgabenerledigung des Bundesgerichtshofs zentralsten Mängel im Bereich der Streitweitrevision selbst auf. Die Zivilsenate des Bundesgerichtshofs stehen unter anhaltend steigendem, starkem Geschäftsdruck. Die jahresdurchschnittlichen Revisionseingänge sind seit der letzten Erhöhung der Streitwertgrenze durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11.01.1993 auf DM 60.000,– weiterhin von ca. 3.500 Rechtssachen im Jahr 1991 auf inzwischen über 4.400 Rechtssachen angestiegen. Die Zivilsenate bedürfen dringend der Entlastung von Rechtssachen ohne revisionsrechtlich bedeutsame Relevanz, die derzeit ihre Arbeitskapazität in starkem Maße beanspruchen und fehlsteuern. Die Streitwertrevision, zumal wenn eröffnet allein mit dem Ziel der Ergebniskorrektur im Einzelfall, kann ihrer Struktur nach nicht vermeiden, dass sie der Revision neben Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung notwendigerweise auch solche Rechtssachen zuführt, die keine über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung haben und so die Arbeitskapazität der Zivilsenate binden, die der vorrangigen Arbeit am Rechtsgrundsätzlichen fehlen. Insbesondere in diesem Punkt hat die Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse die Situation inzwischen verschärft, denn gegenläufig zum Anwachsen des Bedarfs an richtungweisender, rechtsgrundsätzlicher Rechtsprechung nimmt der Anteil von revisionsrechtlich unergiebigen Rechtssachen in der Befassung der Zivilsenate kontinuierlich zu. Im Jahr 1999 entfielen bei 629 Urteilssachen und 1969 Nichtannahmne-Beschlüssen auf eine Urteilssache mehr als drei Nichtannahmesachen. Daran wird deutlich, wie stark inzwischen die Kapazität der Zivilsenate fehlgesteuert wird durch die weit überwiegende Bearbeitung reiner, unter dem Gesichtspunkt der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung unergiebiger Einzelfallrevisionen zu Lasten der Arbeit am Rechtsgrundsätzlichen.
Zu § 543 E
Die Einführung einer vorrangig auf die Klärung rechtsgrundsätzlicher Rechtsfragen gerichteten generellen Zulassungsrevision zum Bundesgerichtshof ist zu begrüßen. Die Neufassung der verfahrensrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen stellt sicher, dass die Zulassung der Revision künftig über den Bereich von Rechtssachen grundsätzliche Bedeutung im engen, rechtstechnischen Sinne hinaus, auch Rechtssachen von allgemeiner Bedeutung erfasst, die eine Leitentscheidung des Revisionsgerichts erfordern, desgleichen, dass sie auch im konkreten Einzelfall die Korrektur von Rechtsfehlern von erheblichem Gewicht einschließen.
Zu § 544 E
Die Nichtzulassungsbeschwerde erachte ich für eine notwendige Ergänzung der neuen Zulassungsrevision zur Sicherstellung einheitlicher Auslegung der Zulassungsvoraussetzungen und zur Stärkung der Kontrollbefugnis des Bundesgerichtshofs im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Rechtsfortbildung. Die in § 26 Nr. 8 EG-ZPO des Entwurfs vorgesehene Beschränkung der Nichtzulassungsbeschwerde auf Rechtssachen mit einem DM 40.000,– überschreitenden Beschwerdewert für eine Übergangszeit von fünf Jahren halte ich für erforderlich und geeignet zur Eingrenzung der Geschäftsbelastung des Bundesgerichtshofs aus dem neuen Beschwerderechtsmittel.
Zu § 551 Abs. 2 Satz 5 und Satz 6 E
Die Begrenzung der Befugnis des Vorsitzenden zur Verlängerung der Begründungsfrist auf zwei Monate bei fehlender Zustimmung des Gegners erachte ich für untunlich. Die Normierung einer zeitlich festen Begründungsfrist dürfte in der Praxis mehr schaden als nützen. Die bisherige flexible, die Besonderheiten der Revisionssache und die Geschäftslage der Senate berücksichtigende Handhabung durch die Vorsitzenden hat sich ohne verfahrensverlängernden Effekt bewährt.
2. Neuregelung der Berufung im Rechtszug vom Amtsgericht zum Landgericht
In der Zielsetzung der Verbesserung der Systemgerechtigkeit der Rechtsmittelstruktur im ganzen verdient der Entwurf Zustimmung auch in seinen Regelungen zur Ausweitung der Berufung gegen Urteile des Amtsrichters. Der bei Streitwerten bis DM 10.000,– beginnende Rechtszug ist die Hauptgeschäftsebene der Zivilgerichtsbarkeit mit ca. vierfach höheren Anfalls- und Urteilszahlen gegenüber dem beim Landgericht beginnenden Rechtszug. Die Berufung ist einziges Rechtsmittel, das bei einer Berufungsquote gegen Urteile des Amtsrichters zwischen 20 und 25 % nur in vergleichsweise geringem Umfang ausgeschöpft wird. Die ausschließliche Verantwortung für die rechtsgleiche Anwendung des materiellen und des prozessualen Rechts liegt bei der Vielzahl von Berufungskammern der Landgerichte. Demgegenüber wären die Oberlandesgerichte unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung der Rechtseinheit das Berufungsgericht ersichtlich besserer Kapazität.
Die in rascher Folge stufenweise Anhebung der Berufungssumme, zuletzt durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11. 01. 1993 auf DM 1.500.– bewirkt für inzwischen mehr als 40 % der Urteile des Amtsgerichts im Bereich geringer Streitwerte den Ausschluß jeglichen Rechtsmittels, wenn man von der zutageliegenden Fehlsteuerung auf die Verfassungsbeschwerde absieht. Die Ausschließung vom Rechtsmittel betrifft eine Vielzahl amtsrichterlicher Urteile. Die damit in Kauf genommenen Gerechtigkeitsdefizite in einem überaus breiten Fallbereich liegen unmittelbar einsichtig auf der Hand. Die Korrektur dieser Fehlentwicklung durch Herabsetzung der Berufungssumme auf DM 1.200,– entspricht aus meiner Sicht nicht zuletzt dem Bedürfnis, auch im Bereich geringerer Streitwerte einen rechtsstaatlichen Mindeststandard an Rechtsmittelmöglichkeiten zu gewährleisten.
Die Neuregelung des § 511 Abs. 2 Nr. 1 E sowie im darunter liegenden Streitwertband die Neueinführung einer einfachen Zulassungsberufung bei rechtsgrundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache in § 511 Abs. 2 Nr. 2 E und die Schaffung eines Abhilfeverfahrens in § 321 a E sind aus meiner Sicht richtige Reformansätze.
3. Neuregelung der Berufung zum Oberlandesgericht
Für die im Entwurf vorgesehene Konzentration des Rechtsmittels der Berufung bei den Oberlandesgerichten spricht nach meiner Auffassung, unbeschadet der Machbarkeitsgrenzen in der gegebenen Personal- und Finanzlage der Bundesländer, der wichtige Gesichtspunkt der Stärkung der strukturellen Voraussetzungen zur Sicherstellung der Rechtsanwendungsgleichheit und der Gewährleistung der Rechtseinheit angesichts zunehmender Komplizierung und Ausdifferenzierung des Rechts. Die Oberlandesgerichte sind die geborenen Berufungsgerichte. Ihre rechtstrukttirierende Kompetenz ist derjenigen der Berufungskammern der Vielzahl der Landgerichte überlegen, insbesondere erheblich weniger divergenzanfällig.
Die dem Entwurf indessen zugrunde liegende Annahme, die mit einer Konzentration der Berufungen bei den Oberlandesgerichten verbundenen Mehrbelastungen könnten durch die Aktivierung personeller Binnenreserven (Erhöhung der Belastungsquoten) und eine effizientere Gestaltung des prozessualen Instruments (Begrenzung auf Fehlerkontrolle – vereinfachte Beschlußerledigung – Einzelrichterprinzip) im wesentlichen aufwandsneutral ausgeglichen werden, erachte ich für eher zweifelhaft.
Zu § 529 Abs. 1 Nr. 2 E
Die gegenüber dem Referentenentwurf geänderte Änderung der Vorschrift begegnet nach meiner Auffassung keinen Bedenken. Im Ergebnis passt sie das Gesetz der bereits bisher bei der Mehrzahl der Oberlandesgerichte üblichen Verfahrenspraxis an. Die Oberlandesgerichte haben in der Mehrzahl schon bisher – auch in den Pflichten voller Tatsacheninstanz – von Beweisaufnahmen nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Einen wesentlichen Effizienzgewinn lässt die Neuregelung deshalb nicht mehr erwarten.
Zu § 522 Abs. 2 E
Die Möglichkeit der Beschlußzurückweisung von Berufungen, die Erfolgsaussicht nicht aufweisen, bedeutet nach meinen Erfahrungen einen durchaus wesentlichen Entlastungseffekt in der Senatsarbeit, und zwar über den Wegfall der mündlichen Verhandlung hinaus. In allen Entlastungsüberlegungen der zurückliegenden Jahrzehnte war die Neueinführung der Beschlußzurückweisung ein maßgebliches Anliegen der Richterschaft. Anteilig stehen dafür nach meiner Schätzung ca. 25 bis 30 % der Berufungen in Betracht. Indessen hielte ich eine schlichte „Kann“-Regelung für effizienter und gegenüber der Fassung des Entwurfs für vorzugswürdig.
Zu § 526 E
Die vorgesehene Regelung bedeutet – auch in der Kumulierung der Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 6 – der Sache nach eine weitreichende Einführung der Einzelrichterbefassung beim Oberlandesgericht als die in der beabsichtigen Neuregelung des Berufungsverfahrens ersichtlich maßgeblichste Quelle von Effizienzgewinnen. Daran ist richtig, dass der Übergang vom Kollegial- zum Einzelrichtersystem einen um ca. 30 % geringeren Personalaufwand bedeutet. Gleichwohl kann nach meiner Auffassung eine so weitgehende Ausweitung des Einzelrichterprinzips nicht befürwortet werden. Ist wesentlicher Gesichtspunkt der Konzentration der Berufung bei dem Oberlandesgericht die Verbesserung der strukturellen Voraussetzungen zur Gewährleistung der Rechtseinheit, so sollten nicht gegenläufig die bündelnden Effekte des Vollsenats durch eine weitreichende Erweiterung der Einzelrichterbefassung geschwächt werden. Noch hinnehmbar erschiene mir die Einführung des Einzelrichters bei den Oberlandesgerichten als „Kann“-Regelung.