Anscheinsbeweis

Der Anscheinsbeweis wird in der gerichtlichen Praxis vielfach angewendet, um bei nicht vollständig aufklärbaren Geschehensabläufen, insbesondere Verkehrsunfällen, eine Verurteilung auch dann zu ermöglichen, wenn ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten oder die Kausalität eines solchen für den Schaden des Klägers nach allgemeiner Erfahrung mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Um nicht Verantwortlichkeiten zu verschieben und Beweislastgrundsätze auszuhebeln, darf der Anscheinsbeweis jedoch nur unter engen Voraussetzungen herangezogen werden, insbesondere muss nach weitestmöglicher Aufklärung des Sachverhalts ein typischer Geschehensablauf festzustehen. Es ist fehlerhaft, bei bestimmten Unfalltypen (z.B. Auffahrunfall, Unfall beim Linksabbiegen oder an einer Grundstücksausfahrt) sogleich auf den Anscheinsbeweis zurückzugreifen.

In einer für die amtliche Sammlung bestimmten Entscheidung hat der BGH einen zu großzügigen Umgang mit den Grundsätzen des Anscheinsbeweises bemängelt und ausgeführt:

„Bei der Anwendung des Anscheinsbeweises ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen auf Grund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist. Deswegen kann er nur Anwendung finden, wenn das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür ist, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet wird, schuldhaft gehandelt hat. Dies ist bei einem Auffahrunfall auf der Autobahn nicht der Fall, wenn feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des Voranfahrenden stattgefunden hatte.“

(BGHZ 192, 84 = NJW 2012, 608)