Statistische Auswertungen
Die Entwicklung des Zivilprozesses in den letzten 20 Jahren
Die nüchternen Zahlen der Justizstatistik zeigen, im zeitlichen Verlauf betrachtet, wie grundlegend sich die Stuation der deutschen Zivilgerichtsbarkeit in den letzten 20 Jahren verändert hat:
- Die Eingangszahlen sind bei den Amtsgerichten um rund die Hälfte, bei den Landgerichten um rund ein Drittel zurückgegangen.
- Die durch die Abgas-Affäre hervorgerufene Klagewelle führte vorübergehend zu einer gegenläufigen Tendenz. Bei den Landgerichten schnellten die Zahlen innerhalb von drei Jahren um fast 20 Prozent empor; inzwischen sind sie wieder auf dem früheren Niveau angelangt.
- Bei den Amtsgerichten ist, nachdem die Eingänge seit 2005 um mehr als die Hälfte zurückgegangen waren, 2023 zum ersten Mal wieder eine Zunahme (um beachtliche 8 Prozent) zu beobachten. Der Blick auf die Sachgebiete zeigt aber, dass dieser Zuwachs fast ausschließlich auf Klagen wegen Fluggastentschädigung zurückzuführen ist. Deren Zahl hat sich von 2022 auf 2023 fast verdoppelt und liegt jetzt bei 108.000. Sie übersteigt damit die Zahl der Verkehrsunfallsachen und macht etwa 14 Prozent des gesamten Geschäftsanfalls der deutschen Amtsgerichte aus.
- Die darin liegende Fehlnutzung der Justizressourcen als Inkasso-Instrument wird noch deutlicher, wenn man die Erledigungsstruktur betrachtet. Während der Anteil der Urteile und Vergleiche zurückgeht, enden immer mehr der amtsgerichtlichen Verfahren (mittlerweile über 13 Prozent) durch Kostenbeschluss wegen Erledigung der Hauptsache, d.h. Zahlung an den Kläger nach Erhebung der Klage.
- Die ebenfalls fragwürdige Inanspruchnahme von Justizressourcen in den Abgas-Fällen zeigt sich darin, dass die Landgerichte deutlich häufiger durch streitiges Urteil entscheiden mussten (2021 z.B. in rund 40 Prozent der Verfahren, während die Quote in früheren Jahren bei 24 bis 28 Prozent lag). Der Großteil dieser Verfahren landete bei den Oberlandesgerichten. Während dort die Zahl der neuen Berufungsverfahren früher bei rund 50.000 lag, gingen z.B. 2021 über 81.000 neue Verfahren ein. Auch wenn diese Zahl 2023 wieder etwa auf das frühere Maß zurückging, führt diese Flut zu einem hohen Rückstand an offenen Verfahren. Ende 2023 waren immer noch rund 76.000 Berufungsverfahren unerledigt.
- Die starke Belastung der Land- und Oberlandesgerichte schlägt sich auch in einer Zunahme der Verfahrensdauer nieder. Ein Verfahren mit streitigem Urteil dauert jetzt beim Landgericht im Durchschnitt 17 Monate, vor 20 Jahren waren es noch 12 Monate). Wird Berufung eingelegt, vergehen bis zum Urteil des Oberlandesgerichts mittlerweile 33,5 Monate (gegenüber früher 27).
- Merkwürdigerweise hat sich auch bei den Amtsgerichten die durchschnittliche Verfahrensdauer – trotz der rückläufigen Eingangszahlen – verlängert, von rund 7 Monaten vor 12 Jahren auf 9 Monate in 2022; erstmals konnte 2023 dieser Trend mit einem leichten Rückgang auf 8,9 Monate gebrochen werden.
- Enorme – und teilweise schwer verständliche – Verschiebungen weist die Justizstatistik bei den Verfahrensgegenständen auf. Deutlich weniger geklagt wird in Bausachen (beim AG minus 80 Prozent, beim LG minus 30 Prozent gegenüber 2005) sowie beim LG wegen Streitigkeiten aus dem Gesellschaftsrecht und dem gewerblichen Rechtsschutz (minus 69 bzw. 66 Prozent im selben Zeitraum). Ein überraschend hoher Zuwachs besteht hingegen bei Verfahren, an denen Versicherungen beteiligt sind: Die Zahl der Haftungsklagen wegen Verkehrsunfällen hat sich seit 2005 um fast zwei Drittel erhöht und ist – entgegen dem allgemeinen Trend – im letzten Jahr nochmals um fast 14 Prozent auf über 30.000 gestiegen – eine Entwicklung, die nicht mit den Unfallzahlen in Einklang gebracht werden kann. Rasant vermehrt haben sich auch Klagen aus Versicherungsverträgen (wohl hauptsächlich wegen Prämienerhöhung). Sie machen inzwischen rund 8 Prozent des Geschäftsanfalls bei den Landgerichten aus.
- Permanent im Rückgang begriffen ist die Inanspruchnahme der Gerichte mit Familiensachen. Bei den Amtsgerichten ist ein Rückgang (seit 2010) um rund 25 Prozent, bei den Oberlandesgerichten um 42 Prozent zu verzeichnen. Drastisch ist der Rückgang bei Unterhaltsverfahren (ca. 56 Prozent bei Kindes-, ca. 61 Prozent bei Ehegattenunterhalt). Bei den Gewaltschutzverfahren war bis 2020 ein starker Anstieg festzustellen; seither sind die Zahlen rückläufig.
Weitere Einzelheiten sind der tabellarischen Auswertung der Justizstatistik 2005 – 2023 zu entnehmen.